VG Berlin: Paukenschlag bei der Einreiseverweigerung an der Grenze – Welche Folgen hat das Urteil?

Das Verwaltungsgericht Berlin hat am 2. Juni 2025 mit einem Beschluss (VG 6 L 191/25) die Bundespolizei verpflichtet, einer aus Polen zurückgewiesenen Asylsuchenden die Einreise nach Deutschland zu gestatten und ein Dublin-Verfahren einzuleiten. Dieses Urteil wirft brennende Fragen zur Rechtmäßigkeit der aktuellen Grenzkontrollen und der Zurückweisungspraxis auf. Ist die gesamte Abschiebepraxis nun rechtswidrig, oder muss die Begründung lediglich nachgeschärft werden?

Der Fall: Asylgesuch an der Grenze und die umstrittene Zurückweisung

Eine somalische Staatsangehörige, die eigenen Angaben zufolge Mitte April 2025 über Belarus und Litauen in die EU eingereist war, versuchte am 9. Mai 2025 aus Polen kommend per Zug die deutsch-polnische Grenze bei Frankfurt (Oder) zu überqueren. Bei einer Grenzkontrolle durch die Bundespolizei äußerte sie ein Ersuchen um internationalen Schutz. Parallel dazu stellte ihre Rechtsvertretung schriftlich einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Bundespolizei verweigerte der Antragstellerin jedoch die Einreise mit der Begründung, sie sei aus einem sicheren Drittstaat eingereist, und wies sie noch am selben Tag nach Polen zurück. Die Antragstellerin erhob daraufhin Klage und beantragte im Wege der einstweiligen Anordnung die Gestattung der Einreise nach Deutschland zum Zwecke der Durchführung eines Asylverfahrens oder zumindest eines Dublin-Verfahrens.

Die zentrale Rechtsfrage: Dublin III-Verordnung vs. nationale Einreiseverweigerung

Das Verwaltungsgericht Berlin musste sich mit der Frage auseinandersetzen, ob die Zurückweisung der Antragstellerin auf Grundlage von § 18 Abs. 2 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) rechtmäßig war, wenn sie aus einem anderen EU-Mitgliedstaat (Polen) einreiste und gleichzeitig ein Asylgesuch äußerte. Im Kern ging es um den Anwendungsvorrang des Unionsrechts, insbesondere der Dublin III-Verordnung (VO (EU) 604/2013), gegenüber nationalen Vorschriften zur Einreiseverweigerung.

Die Argumente der Bundespolizei und ihre Widerlegung durch das Gericht

Die Bundespolizei argumentierte, dass die Minderjährigkeit der Antragstellerin nicht erkennbar gewesen sei und die Echtheit der vorgelegten Geburtsurkunde nicht überprüft werden könne. Zudem gebe es kein Recht, einen Asylantrag in einem selbst gewählten Mitgliedstaat zu stellen, und die Einreiseverweigerung bei temporär wiedereingeführten Grenzkontrollen sei zulässig. Sie berief sich auf eine „derzeitige Dysfunktionalität des europäischen Sekundärrechts im migrationsrelevanten Bereich“ sowie auf die unzureichende Zusammenarbeit anderer Mitgliedstaaten bei Dublin-Überstellungen. Auch wurde Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit durch die Mitgliedstaaten betrifft, als Rechtfertigung ins Feld geführt.

Das Gericht wies diese Argumente jedoch dezidiert zurück:

Anwendungsvorrang der Dublin III-Verordnung: Das Gericht stellte klar, dass § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG, auf den sich die Bundespolizei stützte, durch die vorrangigen unionsrechtlichen Regelungen der Dublin III-Verordnung verdrängt wird. Sobald in einem Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird – auch an der Grenze oder in Transitzonen – ist das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Dublin III-Verordnung einzuleiten. Das Ersuchen der Antragstellerin um internationalen Schutz gegenüber der Bundespolizei stellte einen unionsrechtlich wirksamen Antrag dar, der das Dublin-Verfahren auslöst.

Keine Zurückweisung ohne Dublin-Verfahren: Die Dublin III-Verordnung erlaube keine Zurückweisung ohne Durchführung des vollständigen, darin geregelten Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Dieses Verfahren umfasse nicht nur Kriterien für die Zuständigkeitsbestimmung, sondern auch umfassende Verfahrensrechte für die Antragsteller, wie das Recht auf Information und eine persönliche Anhörung. Eine rein negative Zuständigkeitsentscheidung sei nicht zulässig; die Zuständigkeit eines anderen Staates müsse positiv begründet werden.

Keine Suspendierung durch „Dysfunktionalität“: Das Gericht folgte nicht der Argumentation der Antragsgegnerin, eine „Dysfunktionalität“ des europäischen Sekundärrechts rechtfertige eine Abweichung von der Dublin III-Verordnung. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) habe bereits festgestellt, dass selbst ein Massenzustrom keine Suspendierung der Dublin-Regeln bewirke. Zudem seien Rechtsverstöße anderer Mitgliedstaaten keine Rechtfertigung für eigenes unionsrechtswidriges Verhalten.

Enge Auslegung von Art. 72 AEUV: Das Gericht betonte die enge Auslegung von Art. 72 AEUV. Eine Berufung auf diese Bestimmung erfordere die Darlegung konkreter Gründe für eine Abweichung vom geltenden Sekundärrecht und das Fehlen anderer sekundärrechtlicher Instrumente zur Bewältigung der Situation. Die Antragsgegnerin habe keine hinreichende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des Art. 72 AEUV dargelegt. Numerische Angaben zu Asylantragszahlen reichten nicht aus, um konkrete Auswirkungen auf Grundinteressen der Gesellschaft oder die Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen zu belegen. Auch fehle es an Darlegungen, warum die Zurückweisungen an der Grenze diesen Mängeln abhelfen würden. Eine Instrumentalisierung von Migration durch Russland und Belarus an den Außengrenzen könne nicht ohne Weiteres eine Anwendung des Art. 72 AEUV an Binnengrenzen begründen, zumal der Ausnahmecharakter solcher Maßnahmen betont werde.

Der Anordnungsgrund: Unzumutbare Lage der Antragstellerin

Das Gericht sah einen Anordnungsgrund gegeben, da die Antragstellerin sich ohne bestehendes Aufenthaltsrecht in Polen befinde und nicht absehbar sei, wie lange ihre Betreuung durch eine NGO aufrechterhalten werden könne. Zudem bestehe die reale Gefahr einer Rückführung nach Belarus ohne Durchführung eines Asylverfahrens, was für die Antragstellerin unwiederbringliche Nachteile bedeuten würde.

Die Folgewirkungen des Urteils: Ein Paradigmenwechsel?

Das Urteil des VG Berlin ist von erheblicher Tragweite und könnte weitreichende Folgen für die deutsche Einreise- und Abschiebepraxis haben:

Stärkung der Dublin III-Verordnung: Das Gericht bestätigt den uneingeschränkten Anwendungsvorrang der Dublin III-Verordnung. Eine pauschale Ablehnung von Asylgesuchen an der Grenze mit Verweis auf „sichere Drittstaaten“ innerhalb der EU oder auf eine vermeintliche „Dysfunktionalität“ des Dublin-Systems ist nach dieser Entscheidung unionsrechtswidrig. Dies bedeutet, dass Deutschland, sobald ein Asylgesuch an seiner Grenze geäußert wird, ein vollständiges Dublin-Verfahren einleiten muss.

Implikationen für die Zurückweisungspraxis: Die Entscheidung legt nahe, dass die aktuelle Praxis der direkten Zurückweisung von Personen, die an der Grenze ein Asylgesuch äußern und aus einem anderen EU-Mitgliedstaat kommen, ohne vorheriges Dublin-Verfahren, rechtswidrig sein dürfte. Die Bundespolizei kann sich nicht länger auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG stützen, um solche Zurückweisungen zu rechtfertigen.

Erfordernis eines „Grenzverfahrens“ unter Unionsrecht: Das Gericht weist darauf hin, dass ein Dublin-Verfahren zwar auch an der Grenze durchgeführt werden kann, dies aber die Einhaltung aller unionsrechtlichen Verfahrensgarantien, einschließlich Unterbringung und Sprachmittlung, erfordert. Dies stellt die Behörden vor erhebliche praktische Herausforderungen, da die Infrastruktur hierfür bisher oft fehlt.

Eingeschränkte Berufung auf Art. 72 AEUV: Die enge Auslegung von Art. 72 AEUV als Ausnahmevorschrift bedeutet, dass sich Mitgliedstaaten nicht einfach pauschal auf Gefahren für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit berufen können, um unionsrechtliche Verpflichtungen zu umgehen. Es bedarf konkreter Darlegungen und des Nachweises, dass keine anderen sekundärrechtlichen Mechanismen zur Verfügung stehen. Dies erschwert die Rechtfertigung von einseitigen Maßnahmen erheblich

Bedeutet das die Rechtswidrigkeit der gesamten Abschiebepraxis?

Nein, das Urteil bedeutet nicht, dass die gesamte Abschiebepraxis rechtswidrig ist. Es bezieht sich auf die spezifische Konstellation der Einreiseverweigerung an der Binnengrenze bei Äußerung eines Asylgesuchs und Anwendbarkeit der Dublin III-Verordnung.

Das Gericht hat klargestellt, dass die Antragstellerin zwar Anspruch auf die Durchführung eines Dublin-Verfahrens hat, aber keinen unbedingten Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet zum Zwecke eines Asylverfahrens oder auf einen Aufenthaltstitel. Das Dublin-Verfahren kann auch an der Grenze durchgeführt werden. Es geht also primär darum, dass Deutschland seiner unionsrechtlichen Verpflichtung zur Durchführung des Dublin-Verfahrens nachkommt, wenn ein Asylgesuch an der Grenze geäußert wird.

Die Entscheidung könnte jedoch dazu führen, dass die Praxis der sofortigen Zurückweisung von Asylsuchenden an den Binnengrenzen, die aus anderen EU-Staaten kommen, überdacht und an die Vorgaben des Unionsrechts angepasst werden muss. Behörden müssen künftig, bevor sie eine Zurückweisung aussprechen, sicherstellen, dass ein vollständiges Dublin-Verfahren eingeleitet und die unionsrechtlichen Verfahrensgarantien eingehalten werden. Dies erfordert möglicherweise eine Umstrukturierung der Abläufe an den Grenzen und eine stärkere Koordination mit den zuständigen Dublin-Behörden (in Deutschland: dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge).

Nacharbeiten in der Begründung ausreichend?

Ob eine reine „Nacharbeit“ in der Begründung der Zurückweisungen ausreicht, ist fraglich. Das Urteil legt die Messlatte für die Anwendbarkeit von Ausnahmen vom Unionsrecht, wie Art. 72 AEUV, sehr hoch. Es ist nicht ausreichend, lediglich pauschale Hinweise auf eine „Dysfunktionalität“ oder abstrakte Zahlen zu geben. Es bedarf einer konkreten und nachvollziehbaren Darlegung, wie die Maßnahme eine tatsächliche und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit abwehrt und warum andere sekundärrechtliche Instrumente nicht ausreichen.

Vielmehr scheint das Urteil darauf hinzuweisen, dass die Einleitung eines Dublin-Verfahrens ein zwingender Schritt ist, sobald ein Asylgesuch an der Grenze geäußert wird und die Dublin III-Verordnung Anwendung findet. Eine Zurückweisung ohne ein solches Verfahren ist demnach rechtswidrig. Die Behörden müssten also nicht nur ihre Begründungen anpassen, sondern vor allem ihre Verfahrensabläufe ändern, um den Vorgaben des Unionsrechts gerecht zu werden. Dies könnte bedeuten, dass die Asylsuchenden nicht sofort zurückgewiesen werden dürfen, sondern für die Dauer des Dublin-Verfahrens in Deutschland verbleiben müssen, möglicherweise in speziellen Einrichtungen an der Grenze, in denen die Verfahrensgarantien gewährleistet sind.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Urteil des VG Berlin eine wichtige Klarstellung zum Vorrang des Unionsrechts und den Grenzen nationaler Einreiseverweigerungen darstellt. Es fordert die deutschen Behörden auf, ihre Praxis an den Binnengrenzen an die Vorgaben der Dublin III-Verordnung anzupassen und die unionsrechtlichen Verfahrensgarantien für Asylsuchende uneingeschränkt zu gewährleisten.